Angst: zwei Seiten einer Medaille
Angst haben wird von vielen Menschen als etwas Negatives gesehen – als Zeichen von Schwäche. Doch dies ist nur der Fall, wenn die Angst das Kommando über uns übernimmt und unser ganzes Leben bestimmt. Angst kann uns auch vor Gefahren schützen und so Leben retten – wie in der aktuellen Corona-Zeit zum Beispiel. Im heutigen Blogbeitrag erläutere ich Ihnen die beiden Seiten der Angst sowie die speziellen Corona-Ängste. Im nächsten Beitrag gebe ich Ihnen konkrete Tipps, wie Sie Ihre Angst überwinden können.
In der Steinzeit war es empfehlenswert, nicht völlig unbeschwert in der Gegend herumzuspazieren, sondern sich bewusst zu sein, dass jederzeit ein Säbelzahntiger um die Ecke kommen könnte. Eine gewisse Angst – verbunden mit einer erhöhten Aufmerksamkeit – unterstützte unseren Vorfahren darin, allzeit bereit zu sein, um kämpfen oder fliehen zu können. Angst kann uns also vor Gefahren schützen und sogar Leben retten. Denn Angst signalisiert uns wie eine Warnlampe, dass etwas nicht in Ordnung ist – und lässt uns handeln. Furcht kann also unter Umständen unsere Leistungsfähigkeit stärken, aber – wenn sie überhandnimmt – uns auch schwächen.
Heute gibt es keine Säbelzahntiger mehr, jedenfalls keine physischen. Wir machen uns über ganz andere Themen Sorgen. Millionen von Menschen leiden unter Ängsten wie z.B. (nicht abschliessend):
- Angst vor Ablehnung: wir alle möchten wertgeschätzt und geliebt werden. Deshalb befürchten viele Menschen, dass sie den Anforderungen ihres Umfelds grundsätzlich nicht genügen oder dass, wenn sie einmal nein sagen oder widersprechen, das Gegenüber sie nicht mehr mag. Sehr viele Menschen sind daher konfliktscheu und haben Mühe, sich abzugrenzen.
- Angst vor Versagen, z.B. bei einer Prüfung oder vor einem öffentlichen Auftritt. Über 40% aller Orchestermusiker leiden gemäss einer Umfrage an Auftrittsangst. Im Geschäftsleben ist dieses Phänomen meiner Erfahrung nach ebenfalls weit verbreitet.
- Angst vor Krankheiten oder Schmerzen: ein Stich im Herzen: „huch, kriege ich einen Herzinfarkt?“ Aussagen wie: „Ich werde mich sicher mit Corona anstecken.“ (mehr zu diesem Thema weiter unten). Oder: ich weiss, ich sollte wieder einmal zum Zahnarzt, aber finde immer wieder andere Ausreden, dass ich keine Zeit dafür finde.
- Existenzängste: Bin ich gefährdet, meinen Job zu verlieren? Habe ich genügend Geld, um zu überleben?
- Angst vor Spinnen, vor dem Fliegen oder in engen Räumen: die Ängste vor konkreten Dingen nennt man Phobien.
Ein Viertel entwickelt krankhafte Ängste
Wie erläutert, kann Angst sehr sinnvoll und sogar lebensrettend sein. Doch rund 25% der Menschen entwickeln Ängste, die nicht mehr rational gerechtfertigt sind durch effektiv drohende Gefahren. Angsterkrankungen zählen neben Depressionen zu den häufigsten psychischen Krankheiten. In solchen Fällen bestimmen Ängste unser ganzes Leben, engen unsere Optionen ein, ja manchmal lähmen sie uns richtig. Vor lauter Angst fällt man keine Entscheidungen mehr und zieht sich völlig zurück.
In solchen Fällen kommt ein gefährlicher Teufelskreis in Gang: unsere negativen Gedanken und Sorgen führen zu körperlichen Reaktionen (z.B. Herzrasen, Schweissausbrüchen, Schwindel, Schlafstörungen). Diese körperlichen Reaktionen wiederum verstärken dann unsere Ängste. Unsere negativen Gedanken und unsere körperlichen Reaktionen schaukeln sich also gegenseitig hoch – bis zu einer Panikattacke, die von keiner effektiven Gefahr ausgelöst wird. Auf den Punkt gebracht: die Angst vor der Angst verstärkt die Angst – und seine Auswirkungen auf uns. Denn durch das dauernde intensive Beschäftigen mit einer gewissen Situation treten die Symptome immer häufiger auf.
Vielfältige und starke Ängste rund um Corona
Genau dieses Muster läuft zurzeit bei vielen Menschen im Zusammenhang mit Corona ab. Wir lesen dauernd Hiobs-Botschaften über die stark steigenden Zahlen und kommen immer mehr in die Angst (selbstverständlich aufgrund der Entwicklungen auch berechtigt). Eine Umfrage in Deutschland hat gezeigt, dass 11% der Befragten sehr grosse Angst vor einer Ansteckung haben und 26% grosse Angst.
Die Corona-Stress-Studie der Universität Basel hat ergeben, dass sich Anfang Juli 2020 rund 40% der Befragten trotz der damaligen Lockerungen gestresster fühlten als vor der Krise. Die Zahl der schwer Depressiven in der Schweiz stieg durch Corona bis im Sommer von vorher 3% auf hohe 12%. Am stärksten betroffen sind Frauen (dies aufgrund der Doppelbelastung Arbeit-Home Schooling) und jüngere Menschen. Sie fühlen sich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, und ihre beruflichen Möglichkeiten werden z.T. gekappt.
Die Menschen haben also nicht nur Angst vor einer eigenen Ansteckung oder der ihrer Liebsten. Folgende Umstände führen dazu, dass Corona uns besonders stark Angst macht:
- Das Virus ist neuartig. Wir kennen auch heute (November 2020) noch nicht alles darüber. Man hat zwar die Behandlungsmethoden in den letzten Monaten durch Erfahrungen verbessert, aber vieles ist noch unbekannt, und es gibt noch keinen Impfstoff. Teilweise widersprechen sich auch die Experten, was uns Laien noch mehr verunsichert.
- Das Virus ist unsichtbar und deshalb auf eine diffuse Art und Weise dauernd präsent in unserem Alltag. Jeder Mensch, dem wir begegnen, könnte ein Träger sein – jede Oberfläche, die wir berühren, könnte voller Viren sein.
- Wir wissen nicht, wie und wann wir das Virus besiegt haben werden (und ob überhaupt!). Es ist also kein klares Ende in Sicht.
- Viele Menschen sind aufgrund ihrer Jobs entweder völlig erschöpft oder haben aufgrund der schlechteren Auftragslage ihrer Arbeitgeber oder ihrer eigenen Unternehmen Existenzsorgen.
- Wegen der reduzierten sozialen Kontakte fehlen Auffangnetze, wenn es einem einmal nicht so gut geht. Ausserdem fühlen sich viele Alleinstehende (seien es Junge oder Alte) einsam.
- Ich stelle in meinem privaten und beruflichen Umfeld fest, dass die Corona-Ängste in der zweiten Welle im Herbst 2020 grösser geworden sind. Das Virus ist jetzt viel näher. Ich vermute, Sie alle kennen persönlich Leute, die davon betroffen sind/waren, oder Sie hatten sogar das Virus selbst. Im Frühling war die Bedrohung für die meisten Menschen noch weiter weg – trotz all der einschneidenden Massnahmen.
Im nächsten Blogbeitrag werde ich Ihnen erklären, wie Sie dafür sorgen können, dass Ihre Ängste – seien es bezüglich Corona oder ganz allgemein – nicht Ihr ganzes Leben bestimmen. Dies ist möglich, denn Ängste entstehen heute häufig nicht durch reale Gefahren, sondern indem wir Situationen negativ bewerten, aufgrund von früheren negativen Erfahrungen wiederum Schlechtes erwarten oder uns Worst-Case-Szenarien ausmalen. Das Gute daran ist: Wir können lernen, uns unseren Ängsten zu stellen und unsere Gedanken umzulenken – wie dies geht, lesen Sie in drei Wochen.
© Claudia Kraaz