„Fokus ist der neue Intelligenz-Quotient“
Unser heutiges Leben ist geprägt von dauernden Unterbrechungen: Mails, Nachrichten, Anrufe, Störungen durch Arbeitskollegen usw. Mit Konsequenzen: unsere Aufmerksamkeitsspanne beträgt gemäss einer Microsoft-Studie nur noch acht Sekunden, eine Sekunde weniger als die von Goldfischen! Was wiederum bedeutet: mehr Fehler, geringere Produktivität und ein schlechteres Gedächtnis. Deshalb sagt Cal Newport, US-Professor für Computerwissenschaften: „Fokus ist der neue Intelligenz-Quotient“.
Die Digitalisierung hat sehr viele Vorteile: Zeitersparnis, Alltagserleichterung, Vernetzung der Menschheit und vieles mehr. Aber gleichzeitig werden wir auch dauernd in Versuchung geführt, uns ablenken zu lassen, nicht mehr an etwas dranzubleiben. Das hat absurde Auswirkungen, wie Studien gezeigt haben (ich erwähne nur die wirklich Absurdesten…):
- Wir lassen uns im Durchschnitt bei der Arbeit alle 11 Minuten unterbrechen, wobei rund 50% der Unterbrechungen selbst erzeugt sind.
- 52% aller 18-24-Jährigen schauen spätestens alle 30 Minuten auf ihr Smartphone. Eine andere Studie sagt, dass wir unser Smartphone über 2500 Mal am Tag berühren.
- Vier von fünf Deutschen nehmen das Smartphone mit auf die Toilette, 50% davon aus Langeweile.
- Nur 19% aller Österreicher geben an, potenziell eine Woche oder länger auf ihr Handy verzichten zu können – jedoch mehr als die Hälfte auf Sex.
- 42% würden lieber auf ihren Geschmackssinn verzichten als auf einen Internetzugang.
- 14-29-Jährige schauen durchschnittlich drei Minuten nach dem Aufstehen auf ihr Smartphone.
- Jeder Zweite leidet an eingebildetem Vibrationsalarm.
- 22% geben zu, schon mal textend in etwas reingelaufen zu sein.
Unser Affengeist
Die Folgen sind dramatisch: Bis zu 50% unserer Wachzeit wandert unser Geist und führt uns überall hin, nur nicht dahin, wo wir aktuell sein wollen. Der Buddhismus nennt das „Affengeist“. Dadurch verzetteln wir uns und bringen häufig Sachen nicht zu Ende, weil wir uns von etwas anderem ablenken lassen. Wir werden ineffizient und unsere Produktivität sinkt. Denn es braucht mehrere Minuten (Studien sprechen von bis zu 20 Minuten), bis wir nach einer Ablenkung wieder voll bei der Sache sind, mit der wir uns vorher beschäftigt haben. Und je häufiger wir dies machen, desto schwächer wird die Konzentration und desto weniger kreativ sind wir. Das Gehirn passt sich an – im Negativen. Und wir werden unzufrieden, weil wir nie mehr in den Flow kommen, der sich entwickelt, wenn man an etwas dran bleibt.
Auch als Frau sage ich: Multitasking ist kontraproduktiv – ja, eigentlich gibt es das gar nicht. Denn unser Hirn kann nicht zwei Dinge gleichzeitig denken. Und es kann auch nicht gleichzeitig im alphabetischen und im numerischen System funktionieren. „Eines nach dem anderen“ sollte es also heissen anstatt „alles gleichzeitig“. Wenn Sie versuchen, in einer Sitzung der sprechenden Person zuzuhören und gleichzeitig ihre Mails zu checken und sogar zu beantworten, werden Sie nicht richtig mitbekommen, was gesagt wird und wie es gesagt wird, aber auch nicht, was in Ihrem Mail steht. Wenn man versucht, zu multitasken, ist man erwiesenermassen langsamer und macht auch mehr Fehler. Also Finger weg davon!
Die Rolle von Dopamin und Cortisol
Wieso sind wir so abhängig von allem Digitalem und lassen uns dauernd ablenken? Das hängt mit der Funktionsweise unseres Gehirns und unserer Hormone zusammen. Wenn wir eine Neuigkeit sehen oder einer unserer Posts auf einem Social-Media-Kanal geliked wird, dann wird Dopamin ausgeschüttet, das Glückshormon. Das Problem beim Dopamin ist, dass wir immer mehr davon brauchen, um uns gut zu fühlen. Das macht uns abhängig. Sehr viele Menschen sind heute so süchtig nach ihren digitalen Geräten, dass sogleich das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet wird, sobald wir das Handy weglegen. Wir könnten ja etwas verpassen…
Viele Apps sind auch so programmiert, dass sie abhängig machen. Sie enthalten ein Belohnungssystem, wenn wir sie oft brauchen. Mit der Konsequenz, dass wir überreizt, erschöpft und mit der Zeit immer gestresster werden. Haben Sie gewusst, dass Bill Gates seinen drei Kindern erst ein Smartphone erlaubt hat, als sie 14 Jahre alt waren? Das sagt alles.
“Mail halten“
Anitra Eggler, eine frühere Internetpionierin und heutige „Digital-Therapeutin“, bringt es auf den Punkt: „Reflex anstatt Reflexion ist das Lebensmotto des Homo Digitalis“. In ihrem Buch „Mail halten“ spricht sie sehr pointiert über die Folgen des digitalen Overloads und gibt auch wertvolle Tipps. Hier diejenigen, die ich am wertvollsten finde (aus ihrem Buch und anderen Quellen):
- Verbannen Sie Ihr Handy aus dem Schlafzimmer, vom Esstisch (zuhause und im Restaurant) und vom Büropult. Schaffen Sie zuhause handyfreie Zonen und kaufen sich einen analogen Wecker.
- E-Mail-Öffnungszeiten (wie Eggler das nennt): öffnen Sie ihr Postfach nur dreimal täglich und arbeiten dann konzentriert ihre Mails ab.
- Wenn Sie dies nicht schaffen: schalten Sie Ihr Mobile und Ihren Computer auf stumm und eliminieren alle Benachrichtungen. Denn Studien haben gezeigt, dass man es höchstens zwei Minuten aushält, NICHT nachzuschauen, wenn man realisiert hat, dass eine Nachricht eingetroffen ist.
- Schauen Sie im Zug aus dem Fenster anstatt auf Ihr Handy.
- Machen Sie kürzere (ein Wochenend-Tag) oder längere (Ferien) digitale Entgiftungen.
- Beschäftigen Sie sich mit den Händen, etwas Handwerklichem, mit Gartenarbeit oder ähnlichem.
- Versuchen Sie, immer wieder achtsam zu sein. Das tönt esoterisch, ist es aber nicht. Es geht darum, im Moment zu sein und wahrzunehmen, ohne zu bewerten. Z.B. die Zähne zu putzen und nicht noch an etwas Anderes zu denken, sondern einfach wahrzunehmen, wie die Zahnpasta schmeckt oder wie sich der Druck der Zahnbürste auf den Zähnen anfühlt. Oder wenn Sie irgendwo warten müssen, einfach wahrzunehmen, was gerade ist. Meditation ist die bekannteste Achtsamkeitsübung. Andere finden Sie z.B. unter https://www.zeitblueten.com/news/fb1-achtsam-werden-ritual-uebungen/.
Aufmerksamkeit funktioniert wie ein Muskel: wir können sie trainieren. Fangen Sie gleich heute damit an. Denn die Fähigkeit zu fokussieren ist nicht einfach ein „nice to have“, sondern eine Voraussetzung für Leistungsfähigkeit, Erfolg und Zufriedenheit. Oder wie es Cal Newport auf den Punkt bringt: „Fokus ist der neue Intelligenz-Quotient“.
© Claudia Kraaz