„KEINE ABGRENZUNG ZWISCHEN ARBEIT UND FREIZEIT“
Als langjährige Leiterin des Betrieblichen Gesundheitsmanagements für die Mitarbeitenden der Basler Versicherungen Schweiz ist Jacqueline Schreiber nahe an den Mitarbeitenden dran und weiss, was sie bewegt. In zwei Interviewteilen berichtet sie über die sich verändernden Bedürfnisse der Angestellten und die Entwicklung des Angebots ihrer Abteilung. Sie stellt eine Zunahme des Drucks in den letzten Jahren fest, appelliert aber auch an die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden.
Claudia Kraaz: Frau Schreiber, welche Dienstleistungen bietet Ihre Abteilung den Mitarbeitenden und Führungskräften der Basler Schweiz an?
Jacqueline Schreiber: Wir haben ein sehr breites Angebot an Dienstleistungen. Im Bereich Gesundheitsförderungs-Massnahmen offerieren wir viele Angebote zu den Themen „Meine Gesundheit“ und „Rund um meinen Arbeitsplatz“. Dazu gehören Informationen und Veranstaltungen zu Ernährung, Bewegungstipps für den Alltag, Entspannung – Stress abbauen, Work-Life-Balance und monatliche Gesundheitstipps sowie diverse Angebote und Kurse wie z.B. Yoga, Pilates, Jogging und Nordic Walking sowie hausinterne Massagen. Seit diesem Jahr besteht eine Kooperation mit einem Fitnesscenter. Die Mitarbeitenden können zu einem sehr günstigen Preis ein Jahresabo abschliessen. Ein weiteres breit genutztes Angebot sind unsere ergonomischen Arbeitsplatzabklärungen und Beratungen, die wir schweizweit durchführen. Im Intranet haben wir ein Informationsportal zu all diesen Themen mit aktuellen Beiträgen. Zudem bieten wir regelmässig Informationsveranstaltungen mit externen Referenten an. Jüngstes Beispiel: Männergesundheit.
Bieten Sie auch ein spezielles Gesundheitsförderungs-Programm für Führungskräfte an?
Wir offerieren den Führungskräften einzelne Ausbildungsmodule zum Thema Führung und Gesundheit z.B. im Umgang mit psychisch belasteten Mitarbeitenden, Lebensbalance oder Resilienz. Wir bilden die Führungskräfte auch im Bereich Präsenzmanagement aus. Dabei geht es darum, wie sie bei Absenzen verfahren müssen. Aber wir sensibilisieren die Führungskräfte auch darauf, dass sie lernen, verstärkt wahrzunehmen, wie es ihren Mitarbeitenden geht, die nicht krank sind. Wir reden mit ihnen über Themen wie z.B. psychische Gesundheit. Zudem haben wir einen Leitfaden entwickelt, wie die Führungskräfte damit umgehen sollen, wenn ihre Mitarbeitenden z.B. eine ungenügende Leistung zeigen.
Von der Lähmung in die Handlungsfähigkeit
Was haben Sie für ein Angebot für Mitarbeitende, denen es nicht gut geht, die stark belastet sind?
Mit meinen beiden Mitarbeitenden bin ich auch für das Case Management der ganzen Basler Schweiz zuständig. Im Gegensatz zu anderen Unternehmen bieten wir dies intern an. Wir begleiten Mitarbeitende und ihre Führungskräfte, wenn jemand krank geworden ist. Zudem sind wir eine vertrauliche Anlaufstelle für Mitarbeitende, die im Alltag Probleme haben. Sie können z.B. nicht mehr gut schlafen, haben finanzielle Probleme oder Konflikte am Arbeitsplatz. Wir unterstützen sie dann darin, eine Veränderungszuversicht zu erlangen und mit den eigenen Ressourcen wieder in die Handlungsfähigkeit zu kommen. Etwa die Hälfte der Fälle bei unserer Mitarbeiterbetreuung gilt Angestellten, die gar nicht krank gemeldet sind. Dabei geht es darum zu verhindern, dass jemand arbeitsunfähig wird oder dass jemandem gekündigt wird.
Hat der Druck auf die Mitarbeitenden in den letzten Jahren zugenommen?
Ja, die Belastung hat klar zugenommen. Aber dies hat nicht nur mit der Arbeitsbelastung selber zu tun. Unsere Welt ist viel schnelllebiger geworden. Wir fokussieren uns weniger auf gewisse Tätigkeiten, sondern schauen z.B. auch während der Arbeit ständig auf unser Handy. Ich stelle dies besonders bei unseren Lernenden fest. Es ist eine grosse Herausforderung in der heutigen Zeit, sich nicht ständig ablenken zu lassen. Die flexiblen Arbeitsmodelle bieten heute viele Vorteile. So kann jemand z.B. auch am Nachmittag einen Schultermin eines Kindes wahrnehmen. Aber weil er dann diese Arbeitszeit abends nachholen muss, ist er nirgends zu 100%. Denn auch während des Schultermins sieht er, dass der Chef ein Mail geschrieben hat. Es gibt also fast keine Abgrenzung zwischen Arbeit und Freizeit mehr. Dadurch wird es schwieriger, sich zu erholen.
Viel weniger repetitive Arbeiten
Wie hat sich der Arbeitsalltag sonst noch verändert in den letzten Jahren?
Wir arbeiten heute viel mehr in Projekten. Das heisst, wir sind gefordert, viel mehr Eigenverantwortung zu übernehmen und können selber viel mehr Einfluss darauf nehmen, was wir genau tun wollen. Die meisten haben heute viel weniger repetitive Arbeiten, weil diese automatisiert wurden. Aber eine selbständige Projektarbeit liegt nicht allen Menschen. Ausserdem erwartet man von den Mitarbeitenden, dass sie immer topmotiviert sind, regelmässig netzwerken usw. Das ist auch nicht allen gegeben und führt dazu, dass einige Menschen unter starkem Stress leiden.
Sind also viel mehr Leute erschöpft als früher?
Die Anzahl erschöpfter Leute hat zugenommen. Wichtig ist das Bewusstsein, dass hier eine grosse Eigenverantwortung bei den Mitarbeitenden liegt. Sie müssen lernen, sich abzugrenzen, zu fokussieren, zu regenerieren. Das Thema Erschöpfung ist bei uns in der Basler kein Tabuthema. Wir möchten, dass darüber geredet wird. Denn nur so kommen die betroffenen Leute auch zu uns, und wir können noch rechtzeitig intervenieren. Dadurch verhindern wir, dass es zu mehr Krankheitsfällen kommt.
Wieso haben psychische Krankheiten und Erschöpfungszustände in den letzten Jahren stark zugenommen?
Das hektische Leben mit dauernden Ablenkungen überfordert die meisten von uns, weshalb es schneller zu Erschöpfungszuständen kommt. Gleichzeitig geht man heute vermutlich – und in vielen Fällen auch glücklicherweise – schneller zu einem Psychiater. Insgesamt ist die Anzahl diagnostizierter Burnouts angestiegen, aber meine Erfahrung zeigt, dass dies weniger mit den Arbeitsstrukturen zu tun hat. Viele Leute verpassen es, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, scheitern also mit ihrem Lebenskonstrukt. Denn eigentlich arbeiten wir so wenig wie noch nie. Wir haben viel mehr Freizeit, sind aber auch dort stark getrieben, denken ständig daran, was wir noch tun sollten. Wir setzen uns also auch selber unter Druck.
Woher kommt denn dieser Druck auf die Jungen heute?
Bei jüngeren Mitarbeitenden, auch Lehrlingen, stelle ich fest, dass sie häufig stark gestresst sind. Sie setzen sich selber stark unter Druck, noch besser zu sein – in jeder Hinsicht. Die sozialen Medien verstärken diesen dauernden Vergleich untereinander noch. Die Jungen sind dann auch nie zufrieden mit dem, was sie geleistet haben. Es gibt immer noch etwas Besseres.
Jacqueline Schreiber (45) ist seit 2006 Leiterin des Betrieblichen Gesundheitsmanagements und HR Case Management der Basler Schweiz. Vorher war sie in einer Rehaklinik im Sozialdienst tätig. Jacqueline Schreiber ist diplomierte Sozialpädagogin und verfügt über einen MAS in Sozialrecht. Im April 2010 erhielt die Basler als erster Allbranchen-Versicherer der Schweiz das Label „Friendly Work Space“ der Gesundheitsförderung Schweiz.
Am 24. Oktober 2017 wird der zweite Teil des Interviews mit Jacqueline Schreiber veröffentlicht. Dabei geht es darum, welches die Verantwortlichkeiten des Arbeitgebers und der Arbeitnehmer sind und wie sich die Bedürfnisse an das betriebliche Gesundheitsmanagement in den letzten Jahren verändert haben.
© Claudia Kraaz